Das Lumia 950: Ein unfreiwilliger Beta-Test

Alles wie immer :(
Alles wie immer 🙁

Was könnte das Lumia 950 doch für ein grandioses Smartphone sein: Das Potential dazu hat es durchaus. Erstens sind die Dinge allerdings anders und zweitens als man denkt.

tl;dr Mein Erfahrungsbericht zum Microsoft Lumia 950 mit Windows 10 und weshalb ich mir derzeit wie in einem unfreiwilligen Beta-Test vorkomme. 

Seit ein paar Monaten nutze ich nun das neueste Modell aus der Lumia-Reihe und stelle täglich fest, dass dieses Telefon wirklich alles sein könnte… wenn es denn fertig wäre.

Tatsächlich wirkt die neue Plattform gereift und so stellt das mobile Betriebssystem aus dem Hause Microsoft eigentlich eine echt schicke Alternative zu Googles Android und dem Apple Einheitsbrei dar. Es ist schlank, schnell, wirkt schlicht und durchaus elegant. Die Oberfläche ist durchdacht und birgt keinerlei Überraschungen – ganz im Gegenteil macht Windows 10 im Alltag sogar erstaunlich viel Spaß.

Auch die Hardware könnte überzeugen: Der Akku treibt den flotten Hexa-Core-Prozessor auch bei intensiverer Nutzung den ganzen Tag lang an, das große Display glänzt durch brillante Farben und stellt alle Inhalte ordentlich und bestens lesbar dar, die Empfangs- und Sendeleistung lässt kaum Wünsche offen und die Kamera schiesst auch bei schlechten Lichtbedingungen fast schon konkurrenzlos gute Fotos: Toll!

Die Haptik des Gehäuses würde ich durchaus als angenehm bezeichnen, auch wenn sich der Hersteller dazu entschieden hat, sein Topmodell in nicht ganz so edlem Plastik fertigen zu lassen. Die Verarbeitungsqualität ist jedoch sehr gut und so wirkt das Material in Kombination mit dem Display durchaus hochwertig.

Ja: Bis hierhin würde ich das Smartphone wirklich wärmstens weiterempfehlen, denn es handelt sich beim Lumia 950 um ein furchtbar gutes Telefon.

Es hat nur ein ganz furchtbares Problem: Windows 10 nämlich 🙁

Die Redmonder Softwareschmiede scheint es als völlig normal zu erachten, ein Smartphone öfters mal aus einem Backup wiederherzustellen (Hard-Reset mit anschliessender Recovery) oder mehrfach täglich neu zu starten. Man fühlt sich wahrhaftig des Öfteren in die Zeiten von Windows XP zurückversetzt, in denen ein Reboot völlig normal war, wenn der Rechner streikte.

Ich war sogar so sauer, dass ich hierzu twitterte:

IMHO sollte ein Smartphone allerdings vor allem eines sein: Zuverlässig.

Und genau hieran hapert es gewaltig, denn Windows 10 stürzt auf dem Lumia 950 gerne ab. Es hängt sich auch einfach mal völlig unmotiviert auf, wenn man das Telefon “aufweckt”: Dann zeigt es minutenlang “laden…” oder “wird fortgesetzt…” an und wartet eigentlich nur darauf, dass man es per Reset neustartet oder völlig entnervt den Akku entfernt.

Wirklich fatal wird es aber immer dann, wenn man gar nicht so richtig mitbekommt, dass das Handy eigentlich schon gar nicht mehr funktioniert. Nahezu in Perfektion gaukelt es Dir vor, zu funktionieren: Es zeigt die korrekte Uhrzeit, lässt Dich noch halbwegs gut im Web surfen und zeigt permanent dieselbe Anzahl ungelesener E-Mails an… das Wetter von gestern… Terminerinnerungen bleiben aus… Es dauert eine Weile, bis man versteht, dass das Handy abgestürzt ist und man erlebt sein blaues Wunder, startet man das Gerät dann neu. Zuletzt habe ich sonntags, am frühen Nachmittag, bemerkt, dass ich seit dem Frühstück defacto ohne Smartphone war… genauer: seit dem Frühstück des Vortags.

Das blaue Wunder wird noch verstärkt, wenn man glücklicher Besitzer einer Smartwatch ist, die dann – wild vibrierend – jede zwischenzeitig verpasste Notification nachholt: Perfekt!

Zum Glück verwende ich mein Smartphone fast ausschliesslich privat, weshalb es weniger schmerzt, wenn so etwas passiert – tatsächlich aber kann so ein “semizuverlässiges Verhalten” auch mal ins Auge gehen…

Dazu kommen weitere zahlreiche “Top-Features”, die sich der Hersteller ausgedacht hat:

  • Meldungen, die einen auf “geänderte Betreibereinstellungen” hinweisen und zum Neustart auffordern
  • Eine Art “Checkdisk”-Ersatz für die SD-Karte, die gleich nach einem Neustart erscheint: Scannt man die SD-Karte auf Fehler, ist das Handy für etwa 45 Minuten ausser Betrieb, da es die SD-Karte scannt. Scannt man die SD-Karte nicht, wird man nach jedem Neustart auf einen Scan hingewiesen.
  • Anrufe, die man nicht annehmen kann: Das Handy klingelt – der Touchscreen allerdings tendiert zu einer gewissen Latenz und ignoriert einfach alles.
  • Anrufe, die das Device zu einem spontanen Neustart bewegen
  • Die daheim via Bluetooth gekoppelte Hifi-Anlage ist auch kilometerweit entfernt am Arbeitsplatz noch vermeintlich zuverlässig gekoppelt
  • Die Kamera-Taste, die nur dann die Kamera startet, wenn das Telefon gerade auch in der richtigen Laune ist
  • Generell ist beim Fotografieren immer Vorsicht geboten: Der Auslöser kann das Telefon gelegentlich einfach neustarten, was sich nahezu perfekt für Schnappschüsse eignet
  • Der Windows Store weigert sich mitunter beharrlich, zu funktionieren: Es fehlt also nicht nur an zahlreichen echten Apps, sondern auch an einer App, die zuverlässig Apps installieren kann
  • Funktioniert der Windows Store dann doch einmal, findet man leider nur zu oft Apps, die zwar den Namen der gesuchten App tragen, aber im Grunde eigentlich gar nichts damit zu tun haben: Die Zahl der Fake-Apps im Windows Store ist leider alles andere als erfreulich

In meiner Liste fehlen sicherlich noch einige grandiose Funktionen, doch sind die Genannten genau diejenigen welchen, die mich derzeit eher nachdenklich stimmen. Das professionelle Verhalten in den offiziellen Supportforen wirkt ebenfalls länger nach, als man es sich wünschen würde, da man hier durchaus gerne und als Lösung für nahezu jedes Problem die folgenden Fragen stellt:

  • Did you try to recover the phone with a backup after doing a hard reset?
  • Did you try a fresh install?

Abgesehen davon, dass mich dieses penetrante Fragen nach Reset & Recovery eher an den Running Gag aus “The IT crowd” erinnert (“Did you try turning it off and on again?”), lässt so etwas eigentlich nur einen Schluss zu, nämlich dass Microsoft nur ganz grob und auch nur im Ansatz verstanden zu haben scheint, wie man sich sein Smartphone eigentlich wünscht und was man mit so einem Gerät im Ursprung eigentlich geplant hat.

Dass der geneigte Nutzer keine Lust haben dürfte, sein “Mobiltelefon” (und damit auch eigentlich jedes Mal das “digitale Abbild seines Lebens”) immer und immer wieder zu löschen und neu zu installieren, nur weil irgendjemand das Betriebssystem völlig verkackt zu haben scheint, vermag man dort vermutlich nicht in Gänze zu erfassen.

Sorry an dieser Stelle für meine ungewöhnlich deutlichen Worte, aber mir fehlt für dieses Vorgehen einfach jegliches Verständnis, da das Prozedere einerseits – inklusive aller Apps, Bilder und Musikstücke – gerne mal einen ganzen Tag in Anspruch nimmt und andererseits völlig überflüssig sein sollte, hätte man in die Entwicklung des OS und der Qualitätssicherung die hierfür notwendige Zeit investiert.

Vor dem Hintergrund des im nächsten Jahr gemunkelten Release eines “Surface Phone” erscheint mir Windows 10 auf dem Lumia 950 wie seinerzeit Windows Vista, das ebenfalls in einem völlig inakzeptablen Zustand auf den Markt geworfen und nur kurze Zeit später durch ein “fertiges” Windows 7 abgelöst wurde.

Eigentlich war ich sehr froh, ein Smartphone zu besitzen, das sich perfekt in meinen persönlichen Windows-Kosmos integriert und das ebenso perfekte Bindeglied zwischen dem heimischen PC und der mobilen Welt darstellen sollte und dies – zumindest auf den ersten Blick – auch in Perfektion kann. Auch der “Continuum-Dock” genannte Adapter, mit dessen Hilfe man einen externen Bildschirm nebst Maus und Tastatur an seinem Smartphone anschliessen kann, weiss durchaus zu überzeugen.

Auf den zweiten Blick jedoch ist dieses Telefon mit dem unfertigsten Betriebssystem ausgestattet, das ich je genutzt habe: Schade eigentlich, denn so komme ich mir täglich vor, als würde ich einen unfreiwilligen Beta-Test mitmachen.

Ich hoffe wirklich, dass es Microsoft jetzt nicht versäumt, die Fehler abzustellen und möglichst bald ein Update bereitzustellen. Mein Frustrationsgrad hat langsam ein echt schlimmes Niveau erreicht.

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